Vorbemerkung des Autors dieser Webseite (2019)
Die unten aufgeführte Erklärung ist zwar schon über 20 Jahre alt, jedoch immer noch zutreffend. Leider hat sie aber in den vergangenen
 Jahrzehnten kaum Eingang in die Lehr-/Bildungspläne gefunden. Ganz im Gegenteil wurde das Fach Geographie in der Schule weiter
 beschnitten/vernachlässigt.




Leipziger Erklärung
zur
Bedeutung der Geowissenschaften
in Lehrerbildung und Schule
30. Oktober 1996
Alfred-Wegener-Stiftung für Geowissenschaften
in Gemeinschaft mit der
Deutschen Gesellschaft für Geographie e.V.und dem Institut für Länderkunde in Leipzig


Die Leipziger Erklärung zur Bedeutung der Geowissenschaften in Lehrerbildung und Schule ist das Ergebnis einer Alfred-Wegener-Konferenz im
Institut für Länderkunde in Leipzig vom 28. bis 30. Oktober 1996.

Die Konferenzteilnehmer repräsentierten die folgenden Wissenschaften bzw. Fachgebiete:

Mineralogie, Geologie, Geophysik, Paläontologie, Bodenkunde, Hydrologie, Polar_ und Meeresforschung, Meteorologie, Physische Geographie,
 Geomorphologie, Geoökologie, Anthropogeographie, Regionale Geographie, Angewandte Geographie, Didaktik der Geographie, Schulgeographie,
Museumspädagogik und Bildungspolitik.

Die Ziele dieser Erklärung sind:

Diese Erklärung wird allen, die für die Bildungspolitik in Deutschland Verantwortung tragen, zur Umsetzung dringend empfohlen.
Vorbereitungskommission:
Prof. Dr. W. Andres, ehem. Mitglied des Präsidiums der Alfred-Wegener-Stiftung
Prof. Dr. A. Mayr, Direktor des Instituts für Länderkunde in Leipzig
StDir Dr. D. Richter, Vorsitzender des Verbandes Deutscher Schulgeographen e.V.
Prof. Dr. H. Haubrich, Past Chairman of the Commission Geographical Education of the International Geographical Union (Federführung)

Leipziger Erklärung zur Bedeutung der Geowissenschaften in Lehrerbildung und Schule


Wir, die Teilnehmer der Alfred-Wegener-Konferenz 1996,

erfüllen unsere staatsbürgerliche Pflicht, indem wir in dieser Erklärung auf für eine zukunftsfähige Entwicklung der Erde unverzichtbare
 geowissenschaftliche und geographische Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen hinweisen.

Wir tun dies
aus tiefer Sorge um die Zukunft der Erde
und um die notwendige Befähigung der Gesellschaft für eine nachhaltige Entwicklung.

Wir beklagen
das Defizit der geowissenschaftlichen und geographischen Bildung unserer Gesellschaft und die unzureichenden Entfaltungsmöglichkeiten der
 Geowissenschaften im Geographieunterricht der Schule
und in der Ausbildung der Geographielehrerenden an der Hochschule
.
Wir gründen
diese Erklärung auf die folgenden nationalen und internationalen Dokumente:
International Charter on Geographical Education (Washington 1992),
Agenda 21 (insbes. Kapitel 35 und 36)
Déclaration internationale des droits de la mémoire de la Terre (Digne-les-Bains 1991)
Universelle Erklärung der Menschenrechte 1948 (insb. Artikel 25 und 26)
Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland (insbes. Artikel 20a)
Habitat Agenda (Istanbul 1996).

Wir empfehlen
diese Erklärung allen Verantwortlichen in Politik und Bildung zur Umsetzung in Schule, Hochschule und Gesellschaft zu beachten und die
 bildungspolitischen Konsequenzen zu ziehen.


Die Erde - ihre Situation gestern, heute und morgen


Die Erde - ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Die Menschheit steht in Gegenwart und Zukunft vor Herausforderungen, die sowohl die natürliche Ausstattung der Erde als auch ihre gesellschaftlichen
Entwicklungen betreffen.

Die Erde - ihre Nutzung und Bewahrung durch eine nachhaltige Entwicklung

Diese Nachhaltigkeit (Sustainability) ist spätestens seit der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro zu einem
 auch allgemein anerkannten Leitprinzip der Entwicklung der Erde geworden. Schon der Brundtland-Bericht definierte "Sustainable Development" wie folgt:
 "Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen
Bedürfnisse nicht befriedigen können." (Unsere gemeinsame Zukunft 1987, S. 46) "Nachhaltigkeit" beinhaltet die interdependenten und sich konfligierenden
Aspekte der Ökologie-, Ökonomie- und Sozialverträglichkeit der Entwicklung.

Während die Geowissenschaften im engeren Sinne Modelle zur Ökologieverträglichkeit anbieten können, erlauben die natur- und sozialwissenschaftlichen
 Betrachtungs-und Arbeitsweisen der Geographie außerdem Aussagen zur Sozial- und Ökonomieverträglichkeit. Die Forschungsleistung aller hier
beteiligten Wissenschaften stehen im Dienst der nachhaltigen Nutzung und Bewahrung der Erde.

Die Erde - ein Forschungsgegenstand der Geowissenschaften

Zu den zentralen geographischen Inhalten des Schulunterrichts müssen die Geowissenschaften Beiträge leisten, die sich beispielsweise aus den folgenden
 Forschungs- und Arbeitsgebieten ergeben:


erdgeschichtliche Entwicklung der Ökosysteme zur Beurteilung zukünftig möglicher Situationen
irdische Stoffkreisläufe und ihre Bedeutung für den Menschen
Dynamik der Erde, Plattentektonik und daraus erwachsende Naturgefahren
Böden als eine Grundlage für eine ausreichende Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung
Wasserhaushalt des festen Landes
aktuelle Wechselwirkungen zwischen Geosphäre und Biosphäre
Zirkulation der Ozeane und Klima
Einfluß der polaren Eiskappen auf Klimawandel und Meeresspiegelschwankungen
raum-zeitlicher Klimawandel und Auswirkungen auf regionale Lebensbedingungen
Dynamik und Chemie der Stockwerke der Atmosphäre

Die Erde - ein Bildungsinhalt zur Qualifizierung unserer Gesellschaft für eine zukunftsfähige Entwicklung

Die nachhaltige Entwicklung und Gestaltung bedürfen neben der geowissenschaftlichen und geographischen Forschung eines qualifizierten Engagements
aller Mitglieder unserer Gesellschaft auf der Basis angemessener geowissenschaftlicher und geographischer Kenntnisse, Fähigkeiten, Einstellungen und
Verhaltensweisen. Der damit verbundene Auftrag an die Schule kann nur erfüllt werden, wenn außer den traditionellen Inhalten des Geographieunterrichts
 auch grundlegende Ergebnisse der Geowissenschaften in die Lehrpläne aufgenommen werden.

Kenntnis und Verstehen
der natürlichen Systeme der Erde (Landformen, Böden, Gewässer, Klimate, Lebensgemeinschaften) und ihre Interaktionen
sowie der sozio-ökonomischenSysteme der Erde (Landwirtschaft, Siedlung, Transport, Industrie, Handel, Energie, Bevölkerung u.a.m.)
und der wechselseitigen Beziehungen zwischen natürlichen Bedingungen und menschlichen Aktivitäten.

Fähigkeiten
zur Anwendung geowissenschaftlicher und geographischer Methoden wie Feldbeobachtung und -kartierung und
zur Nutzung geowissenschaftlicher und geographischer Informationsformen der Datenbeschaffung, -interpretation und -anwendung.

Einstellungen und Verhaltensweisen
Reges Interesse an ihrem Lebensraum und an der Vielfalt der natürlichen und kulturellen Erscheinungen auf der Oberfläche der Erde zu nehmen;
Die Schönheit der natürlichen Welt einerseits und die Verschiedenheit der Lebensbedingungen der Menschen andererseits zu schätzen;
Über die Qualität der Umwelt und den Lebensraum zukünftiger Generationen besorgt zu sein;
Bereit zu sein, geographische Kenntnisse und Fähigkeiten im privaten, beruflichen und öffentlichen Leben angemessen zu nutzen;
Den Einstellungen und Einsichten entsprechend zu handeln.


Bildungspolitische Konsequenzen


Das Verstehen der Probleme unserer Erde und die Kompetenz für umwelt- und sozialverträgliches Handeln verlangt ein Fach,

Dies ist nur auf geowissenschaftlicher Grundlage zu leisten.

Um eine angemessene geowissenschaftlich/geographische Bildung unserer Gesellschaft zu garantieren und um den Anschluß an die didaktischen
Entwicklungen in vergleichbaren Industriestaaten nicht zu verlieren, sind die folgenden bildungspolitischen Konsequenzen notwendig:

Stärkung der Geographie als eigenständiges Fach
Damit eine sachgerechte Vorbereitung auf die Zukunft gewährleistet werden kann, sollte Geographie zum Bildungskern der Curricula der Primarstufe sowie
 der Sekundarstufen I und II zählen. In der Sekundarstufe und später sollte es von ausgebildeten Fachlehrenden als eigenständiges Fach unterrichtet
 werden. Geographie bildet ein Bindeglied zwischen Natur-und Sozialwissenschaften und ist damit disziplinübergreifend. Außer historischen und
 sozialwissenschaftlichen Fragestellungen bezieht der Geographieunterricht zentrale Inhalte der Geowissenschaften ein. Die geographische Situation der
 Erde ist erst aus ihrem erdgeschichtlichen Werden zu verstehen.

Obligatorischer und kontinuierlicher Unterricht
Es ist von wesentlicher Bedeutung, daß alle Schülerinnen und Schüler durch alle Jahre der allgemeinen Schulbildung einen kontinuierlichen
Geographieunterricht erhalten. Nur diese Voraussetzung macht es möglich, daß sowohl der Beitrag der Geographie zur Allgemeinbildung als auch ihr Anteil
 an der Vorbereitung für das private und öffentliche Leben gewährleistet werden kann.

Zeitbudget
Der Geographie sollte ein Zeitbudget zugebilligt werden, das den anderen Kernfächern des Curriculums entspricht. Die Stundentafel sollte regelmäßige
 Unterrichtsstunden das ganze Jahr hindurch vorsehen, aber auch die Möglichkeit größerer Zeitblöcke für Projekte und Geländestudien gewährleisten.

Die Alfred-Wegener-Stiftung - Vertretung der deutschen Geowissenschaften - fordert daher:

+ Einführung in geographische Fragestellungen im Heimatkunde-, Erdkunde- und Sachunterricht der Primarstufe; + kontinuierlichen zweistündigen Geographieunterricht in den Schuljahrgängen 5 bis 10 aller allgemeinbildenden Schulen; + die Einführung von Geographie als Pflichtkurs in der gymnasialen Oberstufe; + kontinuierlichen Geographieunterricht in allen Formen des berufsbildenden Schulwesens; + den Verzicht auf unklare Lernbereiche und sogenannte Integrationsfächer, in denen geographische, historische und sozialkundliche Inhalte didaktisch
unkonturiert vermengt werden;
+ die Angleichung der Lehrpläne in den 16 Ländern der Bundesrepublik Deutschland und ihre Orientierung an der Entwicklung in den anderen Staaten
 der Europäischen Union;
+ ohne Ausnahme Geographieunterricht durch Fachlehrer.

Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung
Geowissenschaftliche Studienanteile müssen vorgesehen bzw. Studienfachkombinationen von Geographie mit anderen Natur- oder Geowissenschaften
ermöglicht werden, um kompetente Fachlehrende auszubilden. Nur unter diesen Voraussetzungen ist eine qualifizierte geowissenschaftliche Dimension
 des Geographieunterrichts zu gewährleisten.

Geowissenschaften als Bezugswissenschaften des Geographieunterrichts
Bei neuen Lehrplänen und Stundentafeln ist darauf zu achten, daß u.a. alle Geowissenschaften zu den Bezugswissenschaften des Geographieunterrichts
in der Schule zählen. Dies bedeutet, daß der Geographieunterricht mehr als alle anderen Fächer breit interdisziplinär angelegt ist und deshalb
 entsprechende Entfaltungsmöglichkeiten benötigt.

Diese "Leipziger Erklärung zur Bedeutung der Geowissenschaften in Hochschule und Schule" wurde während der Alfred-Wegener-Konferenz im
 Institut für Länderkunde in Leipzig vom 28. bis 29. Oktober entworfen und während einer öffentlichen Veranstaltung in der Alten Handelsbörse
in Leipzig am 30. Oktober 1996 proklamiert.

Die Konferenzteilnehmer empfehlen allen Kultusbehörden die Übernahme der Erklärung zur Verwirklichung einer angemessenen
 geowissenschaftlichen und geographischen Bildung unserer Gesellschaft.

Prof. Dr. R. Meißner, Präsident
der Alfred-Wegener-Stiftung

Prof. Dr. G. Heinritz, Präsident
der Deutschen Gesellschaft für Geographie
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